von Dr. Hermann Biehler, Mitglied im Gemeindeforum Rosenheim Süd
Zusammenfassung
Es ist schwierig, die mit einer zusätzlichen Bahntrasse verbundenen Wirkungen auf die Region zu erfassen und untereinander vergleichbar zu machen. Ich akzeptiere die Nutzwertanalyse als eine Grundlage hierfür. Der begrenzten Aussagekraft dieser Methode muss man sich jedoch immer bewusst sein.
Meine Bedenken und Kritik an der Vorgehensweise bei der Trassenauswahl formuliere ich als Thesen, die behandelt und widerlegt oder bestätigt werden müssen. Die Kritik richtet
sich
– gegen einige Punkte bei der Anwendung der Nutzwertanalyse,
– gegen die unklare und bisweilen irreführende Darstellung einer nicht fachlichen Öffentlichkeit und Politik gegenüber
– und gegen die nachrangige Behandlung der Betroffenheit der Region im Trassenauswahlverfahren.
Das Vorhaben, zwei zusätzliche Gleise mit möglichen 230 km/h Befahrbarkeit und zwei Verknüpfungsstellen zur bestehenden Bahntrasse in die Region zu legen, kann nicht ohne erhebliche Auswirkungen auf die Region bleiben. Jedes Teilkriterium de Indikatoren-katalogs im Fachbereich „Raum und Umwelt“ lässt Schäden und Nachteile für die Region erwarten, seien es Mensch, Natur, Landschaft oder Wasser, Flächenverbrauch usw.. Als besten Fall kann man einen Erhalt des Status quo erhoffen. Das sollte auch der Referenz-punkt „5“ bei der Bewertung der Auswirkungen sein. Jede negative Wirkung müsste kleiner als 5 bewertet werden. Die Definition seitens der DB (und ihrer Berater) lautet jedoch: „entspricht vollständig / am besten den Zielen des Kriteriums“.
These 1: Das Ziel hinter jedem Teilkriterium ist nicht der Erhalt (geschweige denn die Verbesserung) des Status quo, sondern „die Minimierung der Beeinträchtigung“.
These 2: Die schwächere Zielformulierung („Minimierung“) erlaubt es, auch die beste von allen schlechten Wirkungen, also die am wenigsten schlechte Wirkung, mit „5“ zu bewerten.
Für die Bewertung mit 1 (schlecht) gilt: „wesentliche Ziele des Kriteriums nicht bzw. am schlechtesten erfüllt; schwerwiegende Nachteile; bei entsprechenden Vorteilen in anderen Themenbereichen akzeptierbar“.
These 3: Wenn für ein Teilkriterium die Ziele nicht erreicht werden können, ist das kein Hinderungsgrund für die Trassenvariante. Durch Vorteile bei anderen Teilkriterien kann das ausgeglichen werden. Wie in These 2 festgestellt bestehen diese Vorteile möglicherweise nur darin, dass sie von vielen als schlecht bewerteten Wirkungen die geringsten Nachteile bringen.
Die schriftliche Antwort der Bahn auf die Frage: „Wie werden die Zwischenwerte (4 bis 2) ermittelt? Interpoliert?“ lautet: „Die Ermittlung der Klassenwerte (1-5) wird im Regelfall ausgehend vom besten bzw. schlechtesten ermittelten Wert erfolgen. Die Zwischenwerte (Klassen 2 – 4) werden rechnerisch interpoliert.“
These 4: Die Bewertungen 1 bis 5 sind relativ zueinander. Sie haben keinen fixen Bezugspunkt, etwa den Status quo. Sie sagen damit streng genommen nichts über die Betroffenheit der Region aus, sondern nur etwas über die Wirkungen einer Trasse im Vergleich zu den Wirkungen anderer Trassen. Die Betroffenheit der Region steht bei der Bewertung nicht im Mittelpunkt und kommt in der Bewertung nicht zum Ausdruck. Denn auch starke Nachteile können hohe „Nutzwerte“ bekommen.
Die Bewertungen der Teilkriterien und ihre Aggregation wird von der DB vorgenommen. Der Arbeitsaufwand und die erforderlichen Detail-Kenntnisse würden die ehrenamtlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gemeindeforen überfordern.
These 5: Die unvermeidlich subjektiven Bewertungen der Teilkriterien müssen im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung offengelegt werden. Sie müssen einsehbar sein. Das beugt Verdächtigungen der Manipulation vor und kann eventuell auch die unter These 4 genannte Problematik entschärfen.
Im Kriterienkatalog stehen die Teilkriterien ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung für die Region nebeneinander. Um wichtige von weniger wichtigen Teilkriterien zu unterscheiden, ist eine Gewichtung der Teilkriterien abgefragt worden.
These 6: Es ist in recht kurzer Zeit nicht möglich gewesen, den Teilnehmern des Gemeindeforums Rosenheim Süd zu vermitteln, welche Bedeutung die Gewichtung der Teilbereiche hat und wie sie die Ergebnisse beeinflusst. Insbesondere dürfte es vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht bewusst sein, dass es nicht um die absolute, sondern um die relative Wichtigkeit geht. Das Spektrum von 1-10 wird in vielen Fällen wohl nicht ausgeschöpft, weil alle Teilkriterien als wichtig angesehen werden.
Die Teilkriterien werden zu Hauptkriterien aggregiert und daraus wird – gewichtet oder ungewichtet – ein Gesamtwert für die Auswirkungen einer Trasse ermittelt. Die DB bezeichnet diesen Gesamtwert als Nutzwert, obwohl er Beeinträchtigungen, Schäden, Lasten für die Region ausdrückt.
These 7: Der Begriff „Nutzwert“ ist in der Nutzwertanalyse gebräuchlich. Mit ihm soll ausgedrückt werden, welchen Nutzen eine Maßnahme oder eine Investition hat. Im vorliegenden Fall geht es aber um Beeinträchtigungen, Schäden und Lasten, die aus einer Investition für die Region Rosenheim folgen. Nun kann man in Fachkreisen trotzdem an dem Begriff „Nutzwert“ festhalten, weil die Fachleute mit der Methode vertraut sind. In einem Beteiligungsprozess mit breiter Öffentlichkeit und überwiegend fachfremden Teilnehmerinnen und Teilnehmern suggeriert der Begriff „Nutzwert“ etwas Positives und täuscht über die negativenWirkungen hinweg. Für die Beteiligung der Öffentlichkeit wäre ein anderer Begriff zu verwenden, etwa „Belastungswert“.
Ein aktuelles Beispiel mag das verdeutlichen: Der DB-Gesamtprojektleiter Matthias Neumeier wird im OVB mit den Worten zitiert: „So können wir am Ende die insgesamt beste Trasse für die Region finden.“ (OVB vom 23./24.1.21, S.1) Zu ergänzen wäre, dass diese Trasse trotzdem für die Region noch schlecht ist und Belastungen mit sich bringt.
Generell muss man betonen, dass die Nutzwertanalyse nur ungenaue und dehnbare Ergebnisse liefern kann. Schon die Klassifizierung in fünf Gruppen lässt nur grobe subjektive Bewertungen zu. DieAggregation der Bewertungen verschiedener Teilkriterien potenziert die Ungenauigkeit. Mit denunterschiedlichsten subjektiven Gewichtungen wird das Ergebnis noch ungenauer. Es bleibt in jedem Fall subjektiv. Das ist in der Öffentlichkeit auch so darzustellen.
These 8: Mit dem Nutz-/Belastungswert für jede Trasse wird je eine Zahl ermittelt, die mehr Unterscheidungskraft suggeriert als sie tatsächlich hat. Mit unterschiedlichen subjektiven Gewichtungen variiert zudem der Nutz-/Belastungswert. Öffentlichkeit und Politik sind darüber zu informieren, dass die Methode nur bei großen Unterschieden in den Nutz-/Belastungswerten aussagekräftig ist.
These 9: Öffentlichkeit und Politik sind davon in Kenntnis zu setzen, dass bei dem Bewer-
tungsverfahren nicht im Mittelpunkt steht, wie stark die Region betroffen ist. Es wird lediglich ermittelt, welche Trasse die Region stärker betrifft – egal wie groß die Betroffenheit tatsächlich ist.
In der Kostenwirksamkeitsanalyse wird die Gesamtbewertung der Betroffenheits-Kriterien den Kosten und Risiken der jeweiligen Trasse gegenübergestellt. Eine Trasse könnte z.B. bei Kosten (samt Risiken) von 1 Mrd. Euro einen Nutzwert/Belastungswert von 3,5 erreichen, eine andere Trasse bei Kosten von 1,2 Mrd. Euro einen Nutzwert/Belastungswert von 4,2. In beiden Fällen würden 10 Mio. Euro für 0,035 Bewertungspunkte stehen. Für die Region wäre die letztere Variante vorzuziehen, für die Geldgeber die erstere.
These 10: Im Fall gleicher oder ähnlicher Ergebnisse der Kostenwirksamkeitsanalyse für die einzelnen Trassen ist die Trasse mit dem höheren Wert aus der Nutzwertanalyse zu präferieren.
Die Belastungen der Region gehen in die Nutzen-Kosten-Abwägung nicht ein! Und in der Kostenwirksamkeitsanalyse wird nur zwischen stärkeren und schwächeren Belastungen abgewogen, egal wie hoch die Belastungen tatsächlich sind.
These 11: Die Betroffenheit der Region wird im gesamten Entscheidungsprozess nur insoweit berücksichtigt, als ihre Nachteile nach Möglichkeit gering gehalten werden sollen. Undauch das gilt nur, wenn es nicht mit höheren Kosten verbunden ist.
Zu fordern ist, dass die Belastungen, die auf die Region zukommen, schon in der Nutzen-
Kosten-Abwägung berücksichtigt werden.